Das Gedenken zum 30. Jahrestages des Brandanschlages in Solingen wollen rechte Aktivisten missbrauchen, so auch der wegen Volksverhetzung vorbestrafte ehemalige Lehrer Nikolai Nerling. Laut seinen Aussagen sei Solingen nur eine Inszenierung und die Verurteilten seien in Wahrheit unschuldig, so äußerte sich Nerling in jüngster Vergangenheit mehrmals und warf Verschwörungserzählungen in den Raum.
Tathergang und Folgen
Der Anschlag ereignete sich vom 28. bis 29. Mai 1993. Nach dem Geständnis durch einen der damaligen vier Tatverdächtigen, seien drei der Beteiligten am Abend des 28. Mai bei einem Polterabend vor Ort gewesen. Dort sollen diese sich so stark betrunken und gestört haben, dass der Wirt und zwei anwesenden Jugoslawen die drei Personen aus dem Vereinsheim verwiesen. Kurz daraufhin soll die vierte Person zur Gruppe dazugestoßen sein und man begann mit der Tatplanung.
Die Auswahl der Opfer könnte erfolgt sein, weil man die zwei jugoslawischen Personen für Türken gehalten habe. Man beschaffte sich vor der Tat Benzin und drang in das Haus der Familie Genç ein. In dem Haus übergoss man eine Truhe mit dem Benzin und zündete es an. In dem Haus in Soligen-Mitte es starben fünf Menschen und es wurden 17 Personen, teils dauerhaft verletzt.
Die Namen der Opfer
- Gürsün İnce (* 4. Oktober 1965 – 27 Jahre)
- Hatice Genç (* 20. November 1974 – 18 Jahre)
- Gülüstan Öztürk (* 14. April 1981 – 12 Jahre)
- Hülya Genç (* 12. Februar 1984 – 9 Jahre)
- Saime Genç (* 12. August 1988 – 4 Jahre)
Der älteste spätere Verurteilte, Markus G., fiel im Prozess zunächst durch das erwähnte Geständnis auf, welches er jedoch später widerrief. Zudem sei er durch seinen Anwalt zu einem Reuebrief genötigt worden, dies „In der Hoffnung, eine mildere Strafe zu bekommen.“
Bundeskanzler Kohl lehnte ab, bei der Beerdigung dabei zu sein – kein „Beileidstourismus“
Alle Opfer des Anschlages wurden in der Türkei beigesetzt, nahe dem Ort Taşova. An der Trauerfeier nahmen mehrere Mitglieder der türkischen Regierung teil. Als Vertreter der Bundesrepublik war der damalige Außenminister Klaus Kinkel anwesend. Ähnlich wie bei dem Mordanschlag in Mölln lehnte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl eine Teilnahme an der Trauerfeier ab. Sein Regierungssprecher Dieter Vogel sagte, dass die Regierung nicht in einen „Beileidstourismus“ verfallen wolle und verwies auf die „weiß Gott anderen wichtigen Termine“ des Kanzlers. Eine Aussage, welche heute nicht vorstellbar wäre. Bei Trauermärschen wurde immer wieder ein Verbot von rechtsextremistischen Organisationen gefordert, sowie die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker gab den Forderungen recht. Türkische Bürger sollten sich in Deutschland nicht als Bürger zweiter Klasse fühlen.
Pleiten, Verhaftung und Prozess
Das Verfahren gegen die Täter dauerte 18 Monate und zeigte auf, was sich auch bei späteren ausländerfeindlichen Anschlägen immer wieder abzeichnete, es wurden massig Fehler gemacht. Pannen durch die Ermittlungsbehörden. Gerade schon massiver Dilettantismus. So wurden etwa keine Gesprächsprotokolle geführt, keine Beweise wie Fingerabdrücke oder Fußspuren gesichert – der Brandschutt wurde schlicht ignoriert und nicht gesichtet. Dafür gab es ordentlich Gerangel bei der Kompetenz zwischen der örtlichen Polizei und dem Bundeskriminalamt.
Verstrickt im braunen Sumpf war auch schon damals ein V-Mann4, welcher Leiter einer Kampfsportschule war. Diese Schule galt als Treffpunkt der örtlichen Rechtsradikalen. Er selbst galt damals als äußert gut vernetzt im Milieu. Als V-Mann des Landesverfassungsschutzes war er bereits vor der Tat im Einsatz.
Trotz der Pannen gelang es drei junge Männer aus der örtlichen Neonazi-Szene am 4. Juni 1993 zu verhaften. Alle im Alter zwischen 16 und 23 Jahren. Man flog die Verdächtigen nach Karlsruhe. Später wurde auch der vierte Verdächtige verhaftet und ebenfalls zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe verbracht. Nach etwa zehn Stunden Vernehmung sahen sich die Ermittler am Ziel. Man ging davon aus, die Tat bereits weitgehend aufgeklärt zu haben. Zwei der Verdächtigen entsprachen dem gängigen Täterbild: Zerrüttetes Elternhaus und deutlich der rechten Szene zugehörig. Die beiden anderen Personen bestritten schon damals die Tat. Einer entstammt einer Handwerkerfamilie und der vierte einer Arztfamilie.
Trotzt der massiven Pannen bei den Ermittlungen, sprach Generalbundesanwalt Alexander von Stahl von „erstklassiger kriminalistischer Arbeit“. ² Außerdem sah er keinen Hinweis auf organisierten Rechtsextremismus. Nach einem schwierigen Indizienprozess verurteilte das OLG Düsseldorf den 24-jährigen Markus G. zu 15 Jahren Haft, wegen fünffachen Mordes, 14-fachen Mordversuches und in Tateinheit mit schwerer Brandstiftung. Die anderen Täter wurden zu jeweils zehn Jahren Haft verurteilt, die Höchststrafe nach dem Jugendstrafrecht.
Fadime Genç war zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alt, als ein Teil ihrer Familie durch den Anschlag getötet und ein anderer Teil schwer verletzt wurde. Kurz nach der Urteilsverkündung sagte sie: „Der Richter hat das gestern richtig als sinnlose Tat bezeichnet, die auf Rassenhass beruht. Dabei haben wir Jugendlichen, egal, welche Hautfarbe wir haben oder aus welchem Land wir kommen, gemeinsame Interessen. Wir müssen uns gemeinsam für Verbesserungen einsetzen. Hass spaltet nur und führt im schlimmsten Fall zu solchen schrecklichen Taten, wie wir sie erleben mussten.“³
Das Urteil wurde später bestätigt. Zusätzlich wurden die Täter durch das Landgericht Wuppertal zur Zahlung von 250.000 Mark Schmerzensgeld verurteilt, doch ob dieses jedoch jemals gezahlt werden dürfte, bleibt unwahrscheinlich.
Anschlag Solingen 30 Jahre später: Drei Täter sehen sich als Unschuldige
Drei der vier Täter haben pünktlich zum dreißigsten Jahrestages des Anschlages durch den Anwalt eine Erklärung veröffentlichen lassen. In dem mehrseitigen Papier erklärten alle Täter, jeweils unabhängig voneinander, ihre Unschuld. Besonders perfide mutet die Erklärung von Felix K. welcher schreibt: „Keine Worte können ausdrücken, was Sie durchleiden mussten und noch immer durchleiden“. K. war zum Tatzeitpunkt der jüngste Beteiligte. Sie seien jedoch nicht die Mörder, wie alle drei erklärten.
Markus G, ging sogar noch etwas weiter: „Es ist wichtig, dass man den Opfern dieser furchtbaren Tat gedenkt. Sie haben das Schrecklichste erlitten, und niemand kann sich wirklich in ihr Leid hineinversetzen. Es ist aber auch so, dass für diese furchtbare Tat drei Menschen zu Unrecht verurteilt wurden, und
man diesem Unrecht heutzutage keine Aufmerksamkeit mehr schenkt.“
Der Anwalt, welcher die Erklärungen verbreitet, ist Jochen Ohliger. Nach seinen Äußerungen würde er weiter an dem Urteil zweifeln, auch wenn er es als Jurist zu respektieren habe und auch deswegen veröffentliche er dieses Schreiben.
Rechtsextremisten verbreiten Verschwörungserzählungen
Bereits vor dieser Erklärung fanden sich im Internet immer wieder Zweifel an dem Anschlag, meist aus der rechten Ecke: Der Tenor ist, dass die Jungs unschuldig sein und nur Bauernopfer wären. In dieser Kerbe schlägt auch der Rechtsextremist, verurteilte Holocaustleugner und Antisemit Nikolai Nerling ein. Welcher bereits am 21. Mai erklärt hatte, eine Demonstration am 29. Mai angemeldet zu haben. In einem Video sprach er, dass der Fall ausgeschlachtet würde und für „anti-deutsche Propaganda missbraucht“ werde. Seine Demonstration richtet sich (so wörtlich) „Gegen die deutschenfeindliche Instrumentalisierung des Anschlages vor 30 Jahren!“ und es müsse “Wahrheit für ALLE Opfer” geben (Anmerkung der Redaktion: gemeint sind hier die verurteilten Täter).
Nerling fällt schon länger durch Provokationen auf, so besuchte er Mahn- und Gedenkstätten. Relativierte den Holocaust, teils durch geschickte Andeutungen. Er nutzte dies als Werbeplattform für sich und seine Aktionen, was ihm unter Rechten eine gewisse Popularität verschaffte. Durch die Videos seiner Aktionen wurde er am Ende jedoch auch wegen Volksverhetzung zu einer Geld- und einer Bewährungsstrafe verurteilt. Seit der Veröffentlichung der Erklärung nutzt Nerling diese für seine Zwecke und vertonte diese sogar für ein Video.
An dem Demonstrationstag werden weitere Demonstrationen erwartet. Die meisten dieser Veranstaltungen wollen mahnen und gedenken. Nerling soll nach Information der Behörden nur 10 Teilnehmende gemeldet haben. Es dürfte mit einem deutlich größeren Gegenprotest zu rechnen sein.
DIE LINKE NRW stellte sich deutlich gegen die Pläne der rechten Provokateure und ruft dazu auf, an den solidarischen Gegenprotesten teilzunehmen.
Quelle: Eigene Recherchen und das Durcharbeiten von Akten.
² Solinger Anschlag weitgehend aufgeklärt – Stahl: Kein Hinweis auf organisierten Rechtsextremismus. In: Welt am Sonntag. 6. Juni 1993, S. 1. u. 4.
Video von Nikolai Nerling (hier erfolgt keine Verlinkung des Inhaltes von Nerling)