In Deutschland ist barrierefreier und rollstuhlgerechter Wohnraum nach wie vor Mangelware. Die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen oder älteren Menschen bleiben oft unbeachtet, während der Wohnungsmarkt insgesamt unter Druck steht. Trotz klarer Normen und Vorschriften mangelt es vielfach an Verständnis seitens der Vermieter. Eine Untersuchung zeigt, dass viele als barrierefrei oder rollstuhlgerecht beworbene Wohnungen nicht den tatsächlichen Anforderungen entsprechen. Dieser Artikel beleuchtet die Herausforderungen bei der Suche nach geeignetem Wohnraum für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und wirft einen Blick auf die Rolle des Bundesbauministeriums sowie die Forschungsförderung in diesem Bereich.
Bestimmte Gruppen von Menschen benötigen unterschiedlichen Wohnraum, je nach altersbedingter Einschränkung oder allgemeiner Behinderung. In Deutschland gibt es verschiedene Voraussetzungen, um eine Wohnung als barrierefrei oder rollstuhlgerecht bezeichnen zu dürfen. Viele Vermieter zeigen jedoch breite Unkenntnis über diese Normen, trotz der Möglichkeit durch Mitbewerber empfindlich abgemahnt zu werden oder Schadensersatz an Mieter zahlen zu müssen. Grundsätzlich sind die Begriffe barrierefrei und rollstuhlgerecht geschützt, anders als etwa der Begriff altersgerecht. Wer also seine Wohnung als rollstuhlgerecht bezeichnet, muss auch eine solche Wohneinheit nach der DIN-Norm DIN 18040 1 liefern.
In der Norm finden sich alle Angaben für den Bau von barrierefreien oder rollstuhlgerechten Wohnungen, aber auch für Häuser allgemein. Im öffentlichen Raum gilt immer der höhere Standard, also jener für Rollstuhlnutzer:innen. Damit soll sichergestellt werden, dass in Fluren; Garagen; Aufzügen und Gemeinschaftsräumen auch Nutzer:innen von Rollstühlen einen Zugang haben. Gelegentlich werden auch Scheinbegriffe wie „behindertengerecht“ verwendet, welche nicht weiter in den Baunormen definiert sind.
Wohnungen häufig falsch als rollstuhlgerecht bezeichnet
Viel häufiger sehen sich behinderte Menschen jedoch mit der Falschbezeichnung von Wohnungen konfrontiert. Ulrike H.* ist seit einigen Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen. Seit einem Autounfall vor fünf Jahren kann sie ihre Beine nicht mehr selbstständig bewegen. Nach langen Krankenhausaufenthalten und der Reha verbrachte sie einige Zeit in einem Altersheim, trotz ihres damaligen Alters von 25 Jahren. Andere Möglichkeiten gab es laut ihr einfach nicht.
Schon kurz nach dem Einzug im Altersheim suchte sie zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Wohnungen in der Nähe von Berlin. Alles andere als leicht, wie sich Monate später herausstellen sollte. Ihr Antrag auf die Anerkennung einer Behinderung verlief schon frühzeitig positiv. Nach dem Schwerbehindertenausweis ist sie außergewöhnlich gehbehindert, was den Zugang zu geförderten rollstuhlgerechten Wohnungen in Berlin ermöglicht. Zumindest in der Theorie. Lange gab es in ihrem Bezirk keine entsprechende freie Wohnung, also suchten beiden in ganz Berlin und später auch im Umland.
Neun Monate vergingen und es gab einige Besichtigungen. Geförderte Wohnungen waren zum Zeitpunkt laut Ulrike einfach nicht erhältlich. Steffi M.* ihre Lebensgefährtin bestätigte dies. Zu ihrer Überraschung gab es jedoch einige Wohnungen auf dem freien Markt, welche jedoch mit massiven Einschränkungen verknüpft gewesen sein. In Berlin gibt es einige Wohnungsbauunternehmen, welche auf ruhiges Wohnen im Alter setzen. Die entsprechenden Häuser sind somit nur für alte Menschen zugänglich, es sind aber oftmals keine Servicewohnungen oder Altenheime.
Von Außen sind diese Wohnblöcke nicht weiter auffällig. Innen, jedoch für alte und behinderte Menschen optimiert. Egal, ob man einen Rollator oder Rollstuhl benötigt. Wäre die selbstauferlegte Altersgrenze von 50 Jahren nicht im Weg. Dass solche Vorschriften möglich sind, bestätigte uns auch das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen – kurz meist als Bundesbauministerium bezeichnet.
Keine Bauziele des Bundes für barrierefreie Wohnungen
Das Bundesbauministerium erklärte auf unsere Anfrage nach den konkreten Bauzielen für den barrierefreien und rollstuhlgerechten Wohnungsmarkt:
„Die Bundesregierung setzt sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten, bspw. durch die Verdoppelung der Mittel für das Zuschussprogramm Altersgerecht Umbauen im Jahr 2024, für eine Erhöhung des Bestands an barrierefreien Wohnraum ein.“
Auf Nachfrage ergänzte man jedoch, dass es keine Zielvorgabe durch den Bund selbst gibt. Diese Vorgabe würde in der Kompetenz der Bundesländer liegen. Deutlich wurde bei den Antworten auf unsere Fragen, dass es sich der Bund im Bereich der barrierefreien und rollstuhlgerechten Wohnungen ziemlich einfach macht. Man sieht die Verantwortung hauptsächlich bei den Ländern. So lässt sich jedoch fragen, warum braucht es dann ein Bauministerium auf Bundesebene, wenn dieses offenbar nur Förderungen an die Länder gibt.
Anzahl der barrierefreien oder rollstuhlgerechten Wohnungen des Bundes sind unbekannt
Der deutsche Staat verfügt selbst über Wohnungen, aber auch Industriegebäude. Zuständig für die Verwaltung ist die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA). Nach der Angabe dieser verfügt man über 64.500 Wohnungen an mehr als 500 Standorten in ganz Deutschland. Davon sind etwa 38.000 Wohnungen im Eigentum der Bundesanstalt. Für den Rest habe man das Belegungsrecht erworben.
Wie viele Wohnungen barrierefrei oder rollstuhlgerecht sind, konnte man uns jedoch nicht sagen. Es ist der Anstalt schlicht unbekannt. Immerhin schrieb man:
„Dem Grundgedanken der Inklusion, die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen zu
beseitigen und zu verhindern sowie ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu
gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen, trägt die BImA im
Rahmen ihrer Möglichkeiten Rechnung. Die Wohnungsfürsorge ist deshalb bestrebt, die Einstellung
und Beschäftigung behinderter Menschen insbesondere durch das Angebot barrierearmer bzw.
barrierefreier Wohnungen zu unterstützen.“
Mit anderen Worten, wie die Menschen wohnen sollen oder können wissen wir nicht, aber immerhin stellen wir sie ein. Wie man bei der Unkenntnis über das eigene Wohnportfolio im Blick auf barrierefreie Wohnungen, seine Belegschaft mit der Wohnungsfürsorge unterstützten möchte, dürfte wohl ein geschmackloser Witz sein. Die Antwort muss auf betroffene Personen gar zynisch wirken.
Ulrike und ihre Lebensgefährtin mussten jeweils ziemlich lachen, als wir ihnen die Antworten gezeigt haben. „Wenn der Bund den Wohnraum für uns schon nicht ernst nimmt, dann brauchen wir uns bei den Privaten gar nicht zu wundern“, sagte Ulrike in unserem Gespräch.
„Wie viele barrierefreie oder rollstuhlgerechte Wohnungen gibt es im Bundesgebiet?“
„Wie viele barrierefreie oder rollstuhlgerechte Wohnungen gibt es im Bundesgebiet?“ – diese Frage stellten wir dem Bundesbauministerium, die Antwort wusste leider nur zu enttäuschen. Kurz gesagt, hat man darüber gar keinen Überblick. Es gab den Mikrozensus 2022, welcher nach den Merkmalen der Barrierereduktion von Wohnraum fragte. Jedoch erfolgte eine reine subjektive Einschätzung der Befragten selbst. Wenn jedoch schon die Bundesrepublik Deutschland selbst keine Ahnung hat, wie es um den eignen Wohnraum genau bestellt ist, wie sollen es dann die Befragten wissen?
Bei vielen falschen Anzeigen zu rollstuhlgerechten Wohnungen, etwa bei Kleinanzeigen oder den einschlägigen Immobilienportalen, scheint eine subjektive Einstufung kaum geeignet. In der Recherche zu solchen Anzeigen haben wir eine Maisonette-Wohnung gefunden, welche als rollstuhlgerecht eingestuft wurde. Bad im zweiten Stock und natürlich ohne Aufzug.
Bei der Nachfrage sagte der private Vermieter: „Das Erdgeschoss ist ohne Barrieren zu erreichen, somit rollstuhlgerecht.“ Als wir auf die Voraussetzungen in der DIN 18040 hinwiesen, wurde das Gespräch etwas hitziger. Jedenfalls war dem Vermieter nicht klar, dass der Begriff rollstuhlgerecht geschützt ist. Viel mehr scheinen die Begriffe barrierefrei oder rollstuhlgerecht für viele Vermieter:innen eher einen werbenden Charakter zu haben. Am Ende sorgt dies jedoch bei der Suche für deutliche Probleme. Eine nutzerbezogene Suche ist so kaum möglich.
Ulrike fand schließlich eine Wohnung bei einer Genossenschaft. Für die Lebensgefährtin, das Kind aus einer früheren Beziehung und sich selbst ist diese jedoch etwas zu klein. Seitdem wohnen beide getrennt und suchen nach einer besseren Lösung. Ein Schicksal, aber leider kein Einzellfall.
Keine Einzelfälle
Dass der Wohnraum fehlt, ist offensichtlich. Bereits einige Berichte über fehlende Wohnungen für altersgerechtes Wohnen machten auch deutlich, dass es oftmals an Barrieren in den Wohnungen scheitert. Die Verbraucherzentrale NRW prüfte 2018 stichprobenartig Wohnungsportale. Die meisten Wohnungen entpuppten sich am Ende jedoch als Mogelpackung und waren nicht geeignet.
„Aus Verbrauchersicht ist es erforderlich, dass der Filter ‚barrierefrei‘ so gestaltet
ist, dass tatsächlich barrierefreie Wohnungen gefunden werden“, hieß es am Ende der Untersuchung.2
Rollstuhlgerecht mit Treppe?
Bei den üblichen Immobilienportalen stellen die jeweiligen Unternehmen selbst ein und können damit für eine Einstufung der Wohnung als barrierefrei und/oder rollstuhlgerecht sorgen. Eines der wichtigsten Maße für Rollstuhlnutzer:innen ist etwa das Lichtraumprofil der Tür von mindestens 90 cm Breite. Einfacher gesagt 90 cm muss die Öffnung betragen. Zusätzlich bedarf es mindestens einer Wendefläche von 150 x 150 cm vor den Türen oder im Flur. Vereinfacht gesagt: Man muss sich mit dem Rollstuhl drehen können, um vorwärts selbstständig in den Raum fahren zu können.
So werden Wohnungen mit Badewanne (ohne separate Dusche), Treppe und Türen unter 90 cm als rollstuhlgerecht eingetragen. Eine sinnvolle Suche wird gar unmöglich gemacht. Oftmals fehlt es schon an einem passenden Grundriss mit der Einzeichnung der Bewegungsflächen. Auf Nachfrage heißt es dann auch gerne, hier wohnte doch jemand im Rollstuhl. Nur konnte diese Person noch einige Meter gehen, war dadurch nur draußen auf einen Rollstuhl angewiesen und benötigte somit keine R-Wohnung, solche Dinge werden dabei gerne ignoriert.
Individuelle Lösungen sind möglich, erfüllen jedoch keine Norm
Oft finden sich auch maßgeschneiderte Lösungen. Behinderungen sind individuell. Sein Haus oder die eigene Wohnung passt man sich somit individuell an. Später werden diese Wohnungen, etwa nach dem Tod der Eltern, meist vermietet. Die Personen handeln dabei oftmals mit der Überzeugung, dass dieser Wohnraum schon für alle passend sei. Diese Einstellung ist zumindest ziemlich naiv.
Die Norm für eine R-Wohnung oder barrierefreie Wohnung bilden ein Kompromiss ab. Wenn nach diesen Normen gebaut wurde, ist der Wohnraum für einen bestimmten Kreis geeignet. Es ist somit das Mindestmaß. Für Rollstuhlfahrer braucht es etwa die Möglichkeit, möglichst selbstständig in die Wohnung zu gelangen. Eine Treppe oder ein Treppenlift (bei welchen man sich umsetzten muss) sind also nach der Norm nicht unbedingt geeignet. Die Norm lässt sich hier kostenfrei abrufen: DIN 18040-1 und DIN 18040-2 – Planungsgrundlagen des barrierefreien Bauens (bayern.de).
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen barrierefrei nutzbaren Wohnungen und
barrierefrei und uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbaren Wohnungen (DIN 18040-2).
Barrierefrei nutzbare Wohnungen bilden den niedrigen Standard ab und sind etwa für Personen geeignet, welche auf einen Rollator angewiesen sind. Uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbare Wohnungen oder auch R-Wohnungen genannt, bilden den höheren Standard ab. Es finden sich in der Normschrift auch Abbildungen und Beispiele.
Geförderte Forschung nur für altersgerechte Wohnungen
Enttäuschend dürfte auch die Aussage sein, dass man nicht plant, die Erfassung abseits des Mikrozensus auszudehnen. Auf die folgende Komplexfrage hatte man lediglich mit Nein geantwortet:
Gibt es Pläne zu einer qualitativen Befragung? Insbesondere im Blick auf die
verbreitete Unkenntnis über die Barrierefreiheit und die nötige Ausstattung von solchen
Wohnungen, stellt sich die Frage, warum die Erfassung von der Bundesregierung nicht anders
erfolgte?
Jedoch soll es ein Forschungsprojekt geben, welches sich nur auf das altersgerechte Wohnen konzentriert. Warum man sich nur darauf konzentriert, wurde leider nicht wirklich beantwortet. Es gebe zu dem Thema zu wenig Daten, das ist im Grunde die Antwort aus dem Bauministerium. Gleiches gilt zwar für die Wohnungen für behinderte Menschen, aber diese Thematik scheint dem Ministerium weniger wichtig zu sein. Man hätte schließlich auch diesen Aspekt zusammen erfassen können. Die Antworten lassen den Schluss nahe, dass alte Menschen der Regierung offensichtlich wichtiger sind, als behinderte Menschen – zumindest bei der Erfassung und Versorgung von Wohnraum.
Hinweise: Alle Namen, die mit dem Kennzeichen * markiert sind, wurden durch die Redaktion verändert. Die jeweiligen Personen wollten ihren Namen nicht öffentlich bekannt geben. Der Redaktion sind diese Personen namentlich bekannt. Wir haben die Erzählungen und Schilderungen der Personen nachgeprüft.
Quellen:
- Gespräche mit betroffenen Personen
- Anfrage an das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen
- Eigene Recherchen
In der Redaktion gibt es behinderte Menschen, welche ebenso Erfahrungen mit der Thematik gemacht haben, sich jedoch nicht in der Berichterstattung in den Vordergrund drängen wollen.