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Syrien: Zwischen Hoffnung und Chaos – Warum Sicherheit noch fern ist

Das Bild zeigt ein Mädchen, das eine Flagge mit grünen, weißen und schwarzen horizontalen Streifen sowie drei roten Sternen im mittleren Streifen hält. Das Mädchen trägt eine grüne Jacke und steht im Freien, umgeben von anderen Menschen. Die gehaltene Flagge ist die der syrischen Opposition (Alte Flagge Syrien). Im Hintergrund sind Bäume, eine Treppe und mehrere Menschen zu sehen, von denen einige ebenfalls ähnliche Flaggen halten. SYMBOLBILD Syrien zwischen Hoffnung und Chaos

Das Bild zeigt ein Mädchen, das eine Flagge mit grünen, weißen und schwarzen horizontalen Streifen sowie drei roten Sternen im mittleren Streifen hält. SYMBOLBILD

Fast 14 Jahre Bürgerkrieg haben Syrien stark verändert und noch immer kann das Land nicht zur Ruhe kommen, auch wenn der Diktator Bashar al-Assad mit seiner Familie aus dem Land geflüchtet ist. Warum es für eine Diskussion zur Rückführung von Geflüchteten aus Syrien viel zu früh ist und warum Syrien nicht automatisch eine Demokratie wird, dies und mehr im Artikel.

Vom Arabischen Frühling zur Krise

Der Arabische Frühling brachte in vielen Ländern Veränderungen, in Syrien jedoch mündete er in einen verheerenden Bürgerkrieg. Seit 2011 kämpfen verschiedene Akteure gegen al-Assad. Der Arabische Frühling war nicht nur eine Bewegung für Freiheit und Demokratie, sondern in vielen Ländern auch eine Explosion lang angestauter sozialer, wirtschaftlicher und politischer Spannungen. In Syrien trugen Korruption, staatliche Repression und eine ungleiche Verteilung von Ressourcen maßgeblich dazu bei, dass sich Proteste schnell ausweiteten.

Der Krieg hat sich über die Jahre verändert und umfasst mehrere Phasen und Konfliktlinien, darunter die Auseinandersetzung zwischen der Regierung und oppositionellen Kräften, die Intervention externer Akteure wie Russland, Iran, der Türkei und der USA sowie die Bekämpfung extremistischer Gruppen wie des „Islamischen Staats“ (IS). Es schien, dass sich der Konflikt förmlich zementiert hatte, doch mit dem Überfall Russlands gegen die Ukraine wendete sich das Blatt zunehmend. In jüngster Zeit gelang es den Kämpfern der Gruppierung Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) immer mehr Geländegewinne für sich zu entscheiden.

Neue Dynamiken: Proteste und Machtverschiebungen in Idlib

Mit der Entwicklung war über viele Monate hinweg nicht zu rechnen, so gab es in der Provinz Idlib in diesem Jahr über mehrere Monate hinweg Demonstrationen mit tausenden Teilnehmern. Der Sturz des HTS-Anführers Abu Muhammad al-Dschaulani wurde dabei verkündet, was jedoch nicht der Wahrheit entsprach. Die Gruppierung ließ die Demonstration weitgehend gewähren, eventuell auch, weil die Gefängnisse in der Region bereits überlastet waren.

Was man bei aller verständlichen Euphorie über den Sturz des Assad-Regimes nicht vergessen darf, es handelt sich bei der HTS um eine islamistische Bewegung, welche teils aus einer Nachfolgevereinigung von Al-Qaida entstand. Der größte Teil der Mitglieder (ursprünglich 20.000 von insgesamt 31.000 Kämpfern) stammt von der Dschabhat Fatah asch-Scham, welche als Nachfolger der al-Nusra-Front gilt.1 Die Dschihadisten stehen nicht für ein freies Syrien, auch wenn die HTS ihr Herrschaftsgebiet so benannte. Folter, Gewalt und eher eine neue Diktatur waren bisher an der Tagesordnung. Zuletzt stimmte man zwar versöhnliche Töne an – doch was wird nach dem Sieg bleiben? Es wundert daher nicht, dass die Demonstranten „nieder mit der Unterdrückung“ skandierten, wie zuvor schon gegen die Assad-Diktatur.

Die Demonstrationen in Idlib verdeutlichen, dass die Bevölkerung trotz jahrelanger Gewalt und Unterdrückung nach wie vor mutig für ihre Rechte eintritt. Diese Proteste zeigen zudem eine gewisse Zermürbung der HTS-Führung, die nicht wie früher brutal gegen Andersdenkende vorging. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Bewegung zunehmend versucht, sich als gemäßigter und regierungsfähig zu präsentieren – zumindest nach außen. Dennoch bleibt die Frage offen, ob diese Strategie langfristig glaubwürdig ist oder lediglich taktischer Natur, um internationale Akzeptanz zu gewinnen.

Viele Beobachter sahen die Entwicklung jedoch positiv. Laut dem britischen Analysten Malik al-Abdeh, wurden kaum Leute verhaftet oder ermordet.2 Demnach soll ein Großteil der Gefängnisse mit Dschihadisten überlastet gewesen sein, welche sich dem Kurs der HTS nicht beugen wollten. Verschiedene Beobachter:innen attestieren der Bewegung eine Abkehr von der Ideologie eines weltweiten Dschihad.

Internationale Interessen und strategische Kalkulationen

Jedoch bleibt es wohl bei der Ausgangslage des Bürgerkrieges: Syrer stehen gegen Syrer. Der einzige große Unterschied: Aus dem Ausland dürfte wohl kaum konkrete militärische Hilfe zu erwarten sein. Die russische Regierung benötigt ihre Truppen sowie ihre militärischen Mittel ohnehin für ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine, und die Hisbollah wurde durch Israel empfindlich geschwächt. Höchstens der Iran könnte noch versuchen, eigene Ziele durchzusetzen und dafür bestimmte Akteure in Syrien stärken. Israel führte jedoch schon seit einigen Jahren Schläge gegen Waffendepots in Syrien aus und nach dem Machtverlust der Diktatur wurden weitere Luftangriffe durchgeführt, auch die USA beteiligten sich jüngst mit entsprechenden Angriffen. Wobei es bei diesen Angriffen eher darum gehen dürfte, dass der Iran seine Macht im Land nicht ausbauen kann und Chemiewaffen nicht in anderen Konflikten eingesetzt werden. Die Lange im vom Bürgerkrieg gezeichneten Land ist ohnehin schon unübersichtlich genug. Verschiedene Akteure dürften jetzt versuchen, ihre Macht auszubauen oder sich zumindest einen Teil der Macht zu sichern.

Die geopolitischen Interessen in Syrien sind auch in der Post-Assad-Ära allgegenwärtig. Während Russland seine Truppen zunehmend aus Syrien abzieht, um Ressourcen im Ukraine-Krieg zu bündeln, bleibt der Iran weiterhin eine Schlüsselakteur. Dies wirft Fragen darüber auf, inwieweit regionale Machtkämpfe das fragile Machtgefüge in Syrien weiter destabilisieren könnten.

Wie es mit Syrien weitergeht, bleibt am Ende unklar. Was jedoch zu erwarten war, ist das Aufflammen der Abschiebungsdiskussion, die zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur taktlos, sondern auch voreilig ist. Wem wundert es jedoch, wenn man bedenkt, dass sich bereits in diesem Jahr acht EU-Staaten für die Wiederannäherung an das Assad-Regime aussprachen, nur um abschieben zu können? Unter der Federführung Italiens wollte man schließlich die Verbindungen zu Syrien aufnehmen und Assad so international rehabilitieren. Ein ähnliches Motiv bewegte die Tage ebenso den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Der Autokrat, der die HTS und andere Rebellengruppen monatelang zurückgehalten hatte, gab wohl erst kürzlich grünes Licht für die Offensive. Wenngleich die HTS in der Türkei als Terrororganisation eingestuft ist, hielt es Erdoğan nicht von gelegentlichen Hilfslieferungen oder Absprachen ab. Die Türkei macht dies jedoch nicht einfach aus Menschlichkeit, sondern weil man eigene Interessen hat. Die kurdischen Gebiete an der türkischen Grenze sind dem Autokraten ein Dorn im Auge. Allgemein soll der Einfluss von Kurden in Nordostsyrien möglichst gering bleiben. Die kurdische Autonomiezone in Syrien wurde eben mit dem syrischen Ableger der »Arbeiterpartei Kurdistans«, PKK, etabliert. In der Türkei geht man schon seit Jahren unerbittlich gegen die PKK und andere kurdische Organisationen vor. Man fürchtet in Ankara einen wachsenden Einfluss der Kurden, da diese den türkischen Staat destabilisieren könnten. Die Kurden sind schon lange das Feindbild der regierenden AKP.

Innenpolitisch werden die syrischen Schutzsuchenden zu einem wachsenden Problem für die AKP und Erdoğan. Im Rahmen des Deals mit der Europäischen Union erhält die Türkei Geld für die Aufnahme von Geflüchteten. Weitere Spannungen mit der EU, etwa durch die Weiterleitung von Flüchtlingen in den Unionsraum kann sich die Türkei kaum leisten. Monatelang wurde zwischen Ankara und Damaskus ein Paket ausgearbeitet, auch mit Unterstützung des russischen Präsidenten Putin. Zwischen der Türkei und Syrien sollte demnach eine Sicherheitszone eingerichtet werden, weiter jedoch auch um Assads Konziliation mit der Opposition, oder gar der staatlichen Anerkennung von Schulzeugnissen aus Oppositionsgebieten. Moskau spekulierte im Rahmen einer gesicherten Rückessperspektive auf eine »Friedensdividende«, welche im Rahmen einer Aussöhnung durch internationale Hilfen wohl geflossen wären. Baschar al-Assad lehnte jedoch die Angebote ab. Die Türkei dürfte später vom ewigen Nein aus Syrien genervt gewesen sein. Noch am 11. November beim Arabisch-Islamischen Gipfel in Saudi-Arabien lehnte er ein Gesprächsersuchen aus Ankara ab. Al-Assad sagte immer, dass die Gespräche mit der Türkei „keine erwähnenswerten Resultate” zutage getragen hätten.

Ein fragiles Machtvakuum: Chancen und Risiken

Am Ende hat sich Assad mit seiner Entscheidung verzockt, die doch immer die Maxime war – die erlangte Macht nicht hergeben. Keine Kompromisse – Kein Machtverlust. „Schon oberflächliche Zugeständnisse könnten das Regime an den Rand seines Untergangs bringen“, sagte der Syrienexperte Sinan Hatahet vom Thinktank Atlantic Council gegenüber der Tageszeitung »Le Monde«. Am Ende besiegelte jedoch genau diese Haltung das Ende über „Assads Syrien“, wie es früher auf einem Banner für Ankommende am Flughafen von Damaskus stand.

Die Dschihadisten kappten nach ihrer Ankunft in Aleppo vorläufig die Stromversorgung für Fabriken. Wohnviertel haben so erstmals seit 2012 wieder 16 Stunden Strom am Tag. Aus Idlib brachte man 100.000 Brote und die Bäckereien wurden mit Mehl versorgt. Den christlichen Gemeinden wurde ihre Sicherheit versprochen. Bisher zeigt man sich vonseiten der HTS mit einem modernen Gesicht, doch die langfristige Entwicklung bleibt natürlich offen. Ein islamischer Staat ist immer noch angedacht, darüber kann auch eine Telefonhotline für Beschwerden nicht weg täuschen. Noch immer hat der IS zudem in Syrien einige Gebiete in seiner Hand. Doch die entscheidende Frage bleibt, wie die HTS ihre wachsende Macht nutzen wird. Demokratie oder pluralistische Strukturen sind bislang nicht Teil ihrer Agenda, was Zweifel daran aufkommen lässt, ob ein Wandel unter ihrer Führung tatsächlich eine nachhaltige Befreiung für Syrien bringen kann.

In dem jetzigen Machtvakuum kann leider vieles passieren. Man mag als Journalist nicht immer der Schwarzseher sein, doch die Erfahrungen aus Afghanistan mahnen zur Vorsicht, dort trat die Taliban am Anfang auch bewusst moderat auf. Schrittweise fiel jedoch die Maske. Die Ausgangslage lässt sich jedoch nicht in beiden Ländern vollständig miteinander vergleichen.

Rückführungsdebatten in Europa: Ein verfrühter Schritt?

Die Diskussion um Abschiebungen nach Syrien ist nicht nur voreilig, sondern auch kontraproduktiv. Sie ignoriert die unsichere Lage vor Ort und sendet ein falsches Signal an die Geflüchteten, die bereits in Europa integriert sind. Stattdessen sollten sich politische Debatten darauf konzentrieren, wie eine nachhaltige Rückkehrperspektive geschaffen werden kann – basierend auf einer echten Stabilisierung Syriens. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass nicht wenige Bürger:innen aus Syrien in Deutschland bereits integriert sind und hier eine neue Heimat gefunden haben. Sie arbeiten, haben selbst teils Geschäfte aufgebaut und sollten eben nicht einfach wieder so in ein unsicheres Land gedrängt werden.

Integration als Chance: Was Syrische Geflüchtete Deutschland bringen

Ebenso müssen wir uns als Gesellschaft die Frage stellen, ob es nicht besser wäre, diese integrierten Menschen bei uns zu belassen? In Zukunft benötigen wir ohnehin immer noch Einwanderung, um unseren Lebensstil in Deutschland aufrechtzuerhalten.
Ein solcher Ansatz würde nicht nur der aktuellen Lage in Syrien Rechnung tragen, sondern auch unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Realität berücksichtigen. Die Integration vieler syrischer Geflüchteter in Deutschland ist ein Erfolg, den es zu schützen gilt. Diese Menschen tragen bereits heute aktiv zur Gesellschaft bei, sei es durch ihre Arbeit, die Gründung von Unternehmen oder ihr Engagement in der Gemeinschaft. Eine überstürzte Rückführung könnte nicht nur humanitäre Folgen haben, sondern auch wertvolle Potenziale verlieren lassen, die in einem alternden Land wie Deutschland dringend benötigt werden.

Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beiträge syrischer Geflüchteter sind beeindruckend. Nach aktuellen Berichten liegt die Beschäftigungsquote der 2015 nach Deutschland Geflüchteten bei 54 %, mit steigender Tendenz3. Viele junge Menschen nutzen Bildungsangebote, um sich beruflich zu qualifizieren.

Gleichzeitig sollte die Politik darauf abzielen, langfristige Lösungen für die Stabilität in Syrien zu unterstützen, damit eine echte Rückkehrperspektive für jene geschaffen wird, die dies wünschen. Dies erfordert jedoch internationale Zusammenarbeit und ein realistisches Verständnis der komplexen Dynamik vor Ort. Der Wiederaufbau Syriens kann nur unter Einbeziehung aller relevanten Akteure und unter Wahrung der Menschenrechte gelingen.

In Deutschland müssen wir uns fragen, wie wir Migration nicht nur als Herausforderung, sondern als Chance begreifen können. Die Erfahrungen mit bereits integrierten Geflüchteten zeigen, dass eine Willkommenskultur gepaart mit kluger Integrationspolitik langfristig sowohl den Einzelnen als auch die Gesellschaft stärkt. Anstatt voreilige Entscheidungen zu treffen, die auf Unsicherheiten basieren, sollten wir auf nachhaltige Strategien setzen, die sowohl den Geflüchteten als auch den Bedürfnissen unseres Landes gerecht werden.

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EGMR: Deutschland wegen rechtswidriger Abschiebung eines Syrers verurteilt | obiaushv.de

Kurz & Bündig

Wie ist die aktuelle Lage in Syrien?

Syrien ist weiterhin von Unsicherheit geprägt. Verschiedene Akteure kämpfen um Macht, während die Bevölkerung unter der instabilen Lage leidet, wenn auch die Befreiung neue Hoffnung aufkeimen lässt.

Warum sind Rückführungen nach Syrien riskant?

Die unsichere Lage vor Ort und das Fehlen einer funktionierenden Regierung machen Rückführungen riskant und oft unmenschlich.

Welche Rolle spielt die HTS in Syrien?

Die HTS kontrolliert große Teile von Idlib und gibt sich moderater, bleibt jedoch eine islamistische Bewegung mit fragwürdiger Agenda, die bislang keine demokratischen Strukturen nach westlichen Vorbild anstrebt.

Wie tragen syrische Geflüchtete zur deutschen Gesellschaft bei?

Viele syrische Geflüchtete haben sich erfolgreich integriert, sind erwerbstätig und bereichern die Gesellschaft sowohl wirtschaftlich als auch kulturell.

Welche internationalen Akteure sind in Syrien aktiv?

Russland, Iran, die Türkei und teils auch die USA spielen Schlüsselrollen, wobei ihre Interessen die Stabilität weiter erschweren.

Was sind die langfristigen Perspektiven für Syrien?

Ein stabiler Frieden erfordert internationale Zusammenarbeit, den Wiederaufbau der Infrastruktur und die Förderung demokratischer Strukturen.

Quellen:
Eigene Recherche
(€) Syrien-Krieg: Die Welt hat Assad nie aufgehalten beim Töten. Jetzt tun es die Syrer – DER SPIEGEL
Al Qaeda and allies announce ‘new entity’ in Syria – FDD’s Long War Journal
Al-Qaeda merges with former US supplied rebel forces in Syria
Tahrir al-Sham: Al-Qaeda’s latest incarnation in Syria – BBC News

  1. Al-Qaeda merges with former US supplied rebel forces in Syria[]
  2. Syrien-Krieg: Die Welt hat Assad nie aufgehalten beim Töten. Jetzt tun es die Syrer – DER SPIEGEL[]
  3. Mehr als die Hälfte der 2015 nach Deutschland Geflüchteten ist inzwischen erwerbstätig – IAB – Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung[]
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