Gestern berichteten zahlreiche Medien über die Entscheidung zur Militäroperation in Rafah. Dabei konzentrierten sich die meisten Berichte, einschließlich unseres eigenen, auf die Einstellung der Kampfhandlungen. Doch was bedeutet das Urteil wirklich?
Was sagen die Richter selbst? Fünf von ihnen haben eine Erklärung abgegeben. Leider kursieren auch viele Fehlinformationen über das Urteil. In diesem Artikel nehmen wir das Urteil daher genauer unter die Lupe.
1. Urteil stoppt die Kampfhandlungen nicht überall
Wichtig ist, dass das Urteil nicht generell alle Kampfhandlungen untersagt, auch wenn dies häufig angenommen wird. Im Wesentlichen hat das Gericht lediglich seine Sichtweise zur Situation in und um Rafah dargelegt. Im restlichen Gazastreifen kann das israelische Militär grundsätzlich weiterhin aktiv sein. Das Urteil bezieht sich nur auf einen bestimmten Bereich im Gazastreifen.
Vier Richter des Internationalen Gerichtshofs (IGH) haben argumentiert, dass die gerichtliche Entscheidung die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) nicht dazu zwingt, sämtliche Operationen in Rafah einzustellen. Sie betonen, dass die zentrale Klausel des am Freitag ergangenen Gerichtsurteils nicht verlangt, dass Israel alle Militäroperationen in Rafah sofort einstellt. Stattdessen soll es insbesondere Militäroperationen stoppen, die „die Palästinenser ganz oder teilweise physisch zerstören könnten“.
Eine Erklärung verfassten fünf von 15 Richtern. Vier Richter vertraten die oben beschriebene Auslegung.
Nur der Richter aus Südafrika Dire Tladi vertrat die Ansicht, dass das Urteil Israel ausdrücklich auffordert, seine Offensive in Rafah einzustellen.
Der ehemalige Präsident des obersten israelischen Gerichtshofes, Barak, der als Ad-hoc-Richter am IGH in dem von Südafrika gegen Israel angestrengten Fall tätig ist, schrieb in seiner Erklärung, dass die Mehrheitsentscheidung „Israel nur insoweit verpflichtet, seine Militäroffensive im Gouvernement Rafah einzustellen, wie es notwendig ist, um Israels Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention zu erfüllen“.
Laut Aharon Barak sei Israel daher nicht verpflichtet, seine Operation in Rafah vollständig einzustellen, „solange es seinen Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention nachkommt“. Unterstützt wird seine Auslegung durch den deutschen Richter Georg Nolte und dem rumänischen Richter Bogdan Aurescu. Beide gehören zu den 13 Richtern, welche für die Maßnahmen stimmten.
Israel nahm diese Sichtweise an, was bereits erwartet wurde. Generell sind die Urteile des IGH bindend, doch es fehlt dem Gericht an Durchsetzungsmöglichkeiten. Man könnte höchstens den Sicherheitsrat anrufen. Mit der Auslegung, die von drei Richtern unterstützt wird und einer weiteren Richterin, welche ähnlich argumentiert, scheint diese Position zur offiziellen Lesart zu werden. Die USA werden gegensätzliche Anträge vor dem Sicherheitsrat sicherlich blockieren. Der südafrikanische Richter wird sich zudem wahrscheinlich dem Vorwurf der Parteilichkeit stellen müssen, wenngleich dieser nicht gerechtfertigt sein sollte.
Israel teilte in einer offiziellen Antwort mit, dass man „keine militärischen Aktionen in der Region Rafah durchgeführt hat und auch nicht durchführen wird, die der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza Lebensbedingungen auferlegen könnten, die zu ihrer vollständigen oder teilweisen physischen Zerstörung führen könnten“. Man orientiert sich damit also deutlich an der vom Gericht verwendeten Klausel.
Die Vizepräsidentin des IGH, Julia Sebutinde aus Uganda, lehnte alle Maßnahmen ab und warnte in ihrer Stellungnahme davor, dass die Anweisungen des Gerichts missverstanden werden könnten, sodass sie wie eine Forderung nach einem einseitigen israelischen Waffenstillstand in Rafah erscheinen. Sebutinde war die einzige Richterin, die gegen sämtliche Maßnahmen gegen Israel stimmte.
„Diese Maßnahme verbietet dem israelischen Militär nicht vollständig, in Rafah zu operieren. Stattdessen dient sie nur dazu, Israels Offensive in Rafah teilweise einzuschränken, soweit sie Rechte aus der Völkermordkonvention impliziert“, schrieb sie am Freitag. Sie warnte weiter: „[…] Diese Direktive kann als Mandat für einen einseitigen Waffenstillstand in Rafah missverstanden werden und läuft auf ein Mikromanagement der Feindseligkeiten in Gaza hinaus, indem sie Israels Fähigkeit einschränkt, seine legitimen militärischen Ziele zu verfolgen, während es seinen Feinden, einschließlich der Hamas, die Freiheit lässt, anzugreifen, ohne dass Israel reagieren kann.“
Basierend auf diesen Interpretationen und Stellungnahmen kann Israel seine Militäroperationen in Rafah fortsetzen, solange keine massiven Zerstörungen des palästinensischen Zivillebens, nach der Völkermordkonvention, eintreten.
Im Urteil heißt es konkret:
„Der Staat Israel wird in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus der Konvention
über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes und in Anbetracht der
Verschlechterung der Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung im Gouvernement Rafah:
(a) Mit dreizehn zu zwei Stimmen,
Summary of the Order of 24 May 2024 (icj-cij.org)
Sofortige Einstellung der Militäroffensive und aller anderen Maßnahmen im Gouvernement Rafah
Gouvernement, die der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen Lebensbedingungen auferlegen könnten, die
ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen könnten“
2. Grenzübergang Rafah muss geöffnet werden
Das Urteil verpflichtet Israel dazu, mehr für die Zivilbevölkerung zu tun, indem insbesondere der Grenzübergang Rafah geöffnet wird. Allerdings soll es hier eine Problematik mit dem Nachbarn Ägypten geben, wie von der israelischen Regierung betont wird. Anfang des Monats startete die IDF (israelisches Militär) eine Operation, um die Kontrolle über die Gaza-Seite des Übergangs zu erlangen. Gemäß dem Gerichtsurteil muss der Übergang von Israel offen gehalten werden, um eine uneingeschränkte Bereitstellung humanitärer Hilfe in großem Umfang für die Region zu ermöglichen.
Laut Angaben von Israel würde man den Grenzübergang öffnen, jedoch verhindere Ägypten dies, da Kairo ihn nicht wieder öffnen will, solange die IDF die andere Seite effektiv kontrolliert.
Das Gericht ordnete zudem an, dass Israel „den ungehinderten Zugang zum Gazastreifen“ für Untersuchungskommissionen, Erkundungsmissionen oder andere von den Vereinten Nationen beauftragte Untersuchungsorgane zur Untersuchung von Völkermordvorwürfen gewähren muss. Diese Anordnung könnte UN-Organisationen dazu veranlassen, Delegationen zu entsenden, um Ermittlungen zu den Völkermordvorwürfen einzuleiten, die Südafrika und andere Nationen vor Gericht gegen Israel erhoben haben.
Im Urteil heißt es konkret:
„(b) Mit dreizehn zu zwei Stimmen,
Summary of the Order of 24 May 2024 (icj-cij.org)
Aufrechterhaltung der Öffnung des Grenzübergangs Rafah für die ungehinderte Bereitstellung von dringend
dringend benötigter Grundversorgung und humanitärer Hilfe;“
3. Israel habe einen Genozid begangen?
Kurz nach Verkündung des Urteils wurde in den sozialen Medien behauptet, Israel habe einen Genozid begangen. Tatsächlich handelt es sich bei dem Urteil um eine Eilentscheidung, jedoch nicht darüber, ob Israel einen Genozid begangen hat.
Das Urteil bezieht sich zwar auf die Anwendung des Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. Dieses Übereinkommen zielt jedoch nicht nur darauf ab, einen bereits begangenen Völkermord zu bestrafen, sondern auch dessen Verhinderung. Vereinfacht ausgedrückt werden Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass ein solches Ereignis erst gar nicht eintritt. Ein Beispiel dafür ist die Öffnung des Grenzübergangs Rafah oder die Bereitstellung ausreichender Hilfsgüter. Es geht also um den Schutz der Zivilbevölkerung.
Das Gericht ist jedoch der Ansicht, dass die Bemühungen Israels nicht ausreichen würden. In der Zusammenfassung steht dazu: „Auf der Grundlage der ihm vorliegenden Informationen, ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass die Evakuierungsbemühungen und die damit verbundenen Maßnahmen, die Israel nach eigenen Angaben um die Sicherheit der Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu erhöhen, und insbesondere die kürzlich aus dem Gouvernement Rafah vertrieben wurden, ausreichen, um die immense Gefahr zu mindern, der die palästinensische Bevölkerung infolge der Militäroffensive in Rafah ausgesetzt ist.“ 1
Quellen:
Abweichende Meinung des Ad-hoc-Richters Barak: Dissenting opinion of Judge ad hoc Barak | INTERNATIONAL COURT OF JUSTICE (icj-cij.org)
ERKLÄRUNG VON RICHTER NOLTE: Declaration of Judge Nolte (icj-cij.org)
ERKLÄRUNG VON RICHTER AURESCU: Declaration of Judge Aurescu (icj-cij.org)
ERKLÄRUNG VON RICHTER TLADI: Declaration of Judge Tladi (icj-cij.org)
ABWEICHENDE STELLUNGNAHME VON STELLVERTRETENDEM PRÄSIDENTIN SEBUTINDE: Dissenting opinion of Judge Sebutinde (icj-cij.org)
Zusammenfassung des Beschlusses: Summary of the Order of 24 May 2024 (icj-cij.org)
Beitragsbild wurde vom IGH (UN-PHOTO) zur Verfügung gestellt.