„Brasilianischer Wissenschaftler tritt 40.000 mal auf Giftschlangen“ – so oder so ähnlich lautet die Schlagzeile einer Nachricht, die auf verschiedenen Internetplattformen die Runde gemacht hat und dabei Erstaunen, Kopfschütteln und Empörung hervorrief. Und mehr oder weniger ist die Schlagzeile ja geradezu ideal, ganz verschiedene Klischees zu bespielen: Den verrückten Wissenschaftler, der etwas völlig Absurdes aus reiner Neugier tut, dabei Tiere quält und auch ein solcher „Erbsenzähler“ ist, dass er das mit einem so überzogenen Ausmaß tut, sein halbes Leben zu verschwenden, alles garniert mit einem Hauch von skurrilem Ausländer und fertig ist eine Geschichte, die im Kopf bleibt! Nun, die Schlagzeile stimmt und die mitgelieferten Artikel bringen meist auch zumindest knapp zusammengefasst die Geschichte dahinter, aber viele werden nur die Schlagzeile lesen und so bleibt sie ein typisches Beispiel für reißerischen Wissenschaftsjournalismus, der für Klicks ein verzerrtes Bild hinterlässt. Also, schauen wir uns das Ganze einmal genauer an, okay?
Der Wissenschaftler ist João Miguel Alves-Nunes und forscht am Instituto Butantan in São Paulo, einem biomedizinischen Forschungszentrum, das sich besonders um die Erforschung von Schlangengiften und Antiseren (Gegengifte) verdient gemacht hat, aber auch besonders aktiv in der Wissenschaftskommunikation ist, nicht zuletzt mit einem Reptilium, das jährlich etwa 300.000 Besucher anlockt.[1] Giftschlangen kommen in allen tropischen Ländern vor und sind hier ein wichtiges Thema für die Bevölkerung – zum einen sind sie wichtiger Teil des Ökosystems und helfen, Ratten und andere Tiere unter Kontrolle zu halten, zum anderen sind Schlangenbisse aber auch ein echtes Risiko. Die WHO schätzt, dass jährlich etwa 5,4 Millionen Menschen von Schlangen gebissen werden, wobei es zu 2 bis 3 Millionen Vergiftungen kommt und etwa 100.000 Menschen sterben, die meisten davon in Indien. Dazu kommen zahlreiche Fälle anderer schwerer Vergiftungen, die zu Leid, Arbeitsausfällen und in schweren Fällen Amputationen führen.[2]
Zwar gibt es für viele Schlangen Gegengifte, aber diese sind oft nur begrenzt verfügbar, gerade in ärmeren Ländern. Deshalb ist einerseits Prävention wichtig, andererseits aber auch eine möglichst gute Verteilung der Gegengiftvorräte an die Orte, wo Unfälle mit Schlangen besonders häufig zu erwarten sind. Und dazu braucht es verlässliches Wissen über das Verhalten von Schlangen – wo leben sie, wie leben sie, aber auch wie reagieren sie auf Störungen durch Menschen, wann beißen sie und wann injizieren sie dabei auch Gift – denn viele Schlangen können zur Warnung auch „trocken“ beißen, was einen Angreifer genauso abschrecken kann, aber das Gift für die nächste Jagd aufspart. Solches Wissen fehlt aber oft, besteht aus Anekdoten oder teils größtenteils von in Gefangenschaft gehaltenen Schlangen, mit denen Unfälle aber oft anders ablaufen als für die lokale Bevölkerung. Und letztlich ist solches Wissen nicht nur für die Menschen vor Ort von Nutzen, auch den Schlangen kann es helfen, wenn für diese mehr Verständnis entsteht und man Unfälle besser vermeiden kann, ohne sie zu verfolgen.
Wie reagieren Schlangen auf Kontakt mit Menschen?
All das macht sicher die Frage „Wie reagieren Schlangen auf Kontakt mit Menschen?“ relevant, aber das heißt ja noch nicht, dass die Experimente von Alves-Nunes angemessen waren, denn neben einer grundsätzlich sinnvollen Fragestellung gehören zur ethischen Bewertung von Tierversuchen noch eine Reihe anderer wichtiger Punkte:
· Ist die Frage wirklich konkret und relevant genug?
· Ist der experimentelle Ansatz geeignet, Fragen zu beantworten?
· Verursacht der experimentelle Ansatz Leid bei den Tieren und wenn ja, wurde dieses so weit wie möglich minimiert?
Schauen wir auch das genauer an. Zuerst zur Fragestellung an sich: Tatsächlich ist Alves-Nunes nicht nur und vor allem nicht willkürlich auf Schlangen getreten, sondern auch neben Schlangen, auf weibliche und männliche Schlangen verschiedenen Alters, auf verschiedene Körperregionen, bei verschiedenen Tageszeiten und Temperaturen und bei all diesen Bedingungen hat er die Wahrscheinlichkeit von Bissen dokumentiert. Die Frage war also nicht einfach „Was passiert, wenn man auf Schlangen tritt?“ sondern viel konkreter „In welchen Fällen beißen Schlangen zurück, wenn man auf sie tritt?“ – und das ist tatsächlich hochrelevant, denn das versehentliche Treten auf eine Schlange ist eine der häufigsten Ursachen für einen Biss und die verwendeten Jararaca-Lanzenotter verursachen in Brasilien etwa die Hälfte aller medizinisch relevanten Schlangenbisse und all die genannten Bedingungen können, zusammen mit dem Wissen, wo sich zu welchen Tageszeiten etwa Weibchen bevorzugt aufhalten tatsächlich helfen, zu identifizieren, wo besonders hohe Risiken für gefährliche Unfälle bestehen – und damit zum Beispiel auch, wo Gegengift besonders dringend bevorratet werden muss.
Ethik und Validität in der Erforschung von Schlangenreaktionen
Gut, gehen wir also davon aus, dass es hier wirklich um relevante und auch konkrete Fragestellungen geht. Waren die Experimente geeignet, hier Antworten zu bekommen? Nun könnte man zunächst trivial annehmen, dass auf Schlangen treten geeignet ist, zu beantworten, wie Schlangen reagieren, wenn man auf sie tritt, aber so einfach sollten wir es uns nicht machen! Denn zwei Fragen müssen wir stellen: Hätte es bessere Alternativen gegeben und sind die Experimente überhaupt aussagekräftig? Zu ersterem könnte man zum Beispiel anführen, dass man die Schlangen doch auch mit einem Stock hätte reizen können oder nur neben sie treten oder eine andere Art des Erschreckens wählen. Allerdings kommen wir hier zu dem Problem, dass man dabei die Schlangen auch unterschätzt – denn Tiere sind eben keine reinen Reflexautomaten, sondern reagieren meist angepasst und welche Informationen sie alle verarbeiten, ist für uns Menschen oft nicht direkt ersichtlich. Ein Tritt auf den Körper könnte für Schlangen eine ganz andere Bedrohung darstellen als ein Stupsen mit einem Stock und eine andere Abwehrreaktion hervorrufen. Natürlich könnte man jetzt einwenden, dass das auch für einen Tritt mit Stiefel oder barfuß gilt, für einen Erwachsenen oder ein Kind und so weiter, aber letztlich ist für die Fragestellung wohl das tatsächliche Treten auf Schlangen der richtige Ansatz.
Das heißt aber noch lange nicht, dass einfach auf Schlangen treten gute Wissenschaft ist, denn ein ganz wichtiger Punkt bei jedem Experiment muss auch sein, dass es auswertbare Daten ergibt. Und das heißt bei statistischen Auswertungen: Eine ausreichende Menge an Datenpunkten! Und wenn ich zu vielen Einzelfragestellungen Daten benötige, dann heißt das eben oft auch sehr, sehr viele Datenpunkte! In diesem Fall über 40.000! Und das ist ein essenzieller Punkt, den Laien schnell missverstehen: Was auf den ersten Blick exzessiv erscheint, ist oft notwendig, um Daten zu erhalten, die verlässlich genug sind, um die Versuche überhaupt erst zu rechtfertigen. Und das heißt, dass es ethisch vertretbarer sein kann 40.000 mal auf Schlangen zu treten (und dabei wertvolle Daten zu gewinnen), als nur ein paar Mal (und ohne Resultat dazustehen).
Tierwohl versus Forschungsergebnisse: Ein Balanceakt
Bleibt die Frage nach dem Tierleid: Haben die Schlangen gelitten? Und hier ist die Antwort ohne Frage ja! Tatsächlich mussten sie zumindest so viel leiden, dass sie sich angegriffen gefühlt haben und zubeißen. Und auch hier kommen wir an eine Idee, die zunächst paradox erscheinen mag, aber für diese Experimente muss man die Schlangen teilweise quälen, wenn man sie als Lebewesen respektiert – denn in dem Moment, wo man die Tiere nicht als grundsätzlich aggressive Monster ansieht, sondern als empfindsame Wesen, die auf Gefahr und Schmerz reagieren, dann muss man diese zufügen, um realistische Reaktionen beobachten zu können. Wichtig ist dabei aber ohne Frage, das Leid auf das notwendige Maß zu minimieren! Alves-Nunes trat mit einem überkniehohen Sicherheitsstiefel, der mit Schaumstoff gepolstert war, auf die Schlangen, ohne dabei sein volles Gewicht auf sie zu verlagern. Da in den Experimenten 116 Schlangen beteiligt waren und jede an mehreren Hundert Versuchen teilnahm, wäre es unmöglich gewesen, dies durchzuführen, wenn die Tiere verletzt worden wären.
Natürlich bleibt es in der Summe immer wieder schwierig, zu beurteilen, ob ein Forschungsprojekt mit Tierversuchen ethisch zu beurteilen ist. Ist hier die Frage wichtig und der Ansatz gut genug durchdacht, das Tierwohl ausreichend berücksichtigt und alles so gegeneinander abgewogen, dass man grünes Licht geben kann? So etwas beurteilt eine Ethikkommission vor Beginn der Experimente. Eine große Schwierigkeit ist dabei natürlich, dass hierbei immer nur geplante Experimente gegen die wahrscheinlich erzielten Erkenntnisse abgewogen werden können. Das heißt aber auch, dass eine solche experimentelle Serie beim nächsten Antrag ganz anders bewertet werden könnte, denn das Wissen aus solchen Versuchen verrät uns am Ende nicht nur, was wir wissen wollten, sondern auch, wie gut alles funktioniert hat.
Schlangenverhalten: Was die Experimente zeigten
Nach all dieser Vorrede: Was kam nun heraus? Tatsächlich eine ganze Menge[3]: Zum Beispiel, dass in Gefangenschaft aufgewachsene Schlangen und Wildfänge vergleichbar reagierten, dass bei direktem Kontakt Geschlecht und Größe kaum Einfluss auf die Bisswahrscheinlichkeit hatten, kleine Männchen aber selten beißen, wenn man neben sie tritt. Kontakt mit dem Kopf führt zu einer dreifach höheren Bisswahrscheinlichkeit als mit dem Schwanz, Weibchen beißen deutlich wahrscheinlicher bei höheren Temperaturen und junge Schlangen häufiger als ältere. Aus all diesen Daten, den Klimadaten und dem Wissen über Größen- und Geschlechterverteilung der Schlangenpopulationen in der Region São Paulo haben Alves-Nunes ein Modell entwickelt, wo am häufigsten mit Bissen zu rechnen ist und verglichen das mit epidemiologischen Daten – und es passte recht gut! Die Experimente haben also zu einem Modell geführt, das eine Vorhersage ermöglicht, wo besonders mit Schlangenbissen zu rechnen ist und wo daher größere Mengen Gegengift vorrätig gehalten werden sollten. Und im Idealfall kann ein solches Modell auch auf Regionen ohne vorhandene epidemiologische Daten angewendet werden, Veränderungen durch Klimawandel, geänderte Landnutzung, Verbreitung von Arten und mehr vorhersagen und so hoffentlich Menschenleben retten und ein harmonischeres Nebeneinander von Schlange und Mensch ermöglichen.
Bleibt die Forschung skurril? Ja! Ist sie ethisch unproblematisch? Das kann man lange diskutieren! Aber ohne Frage ist die gesamte Geschichte viel komplexer und spannender als die reißerische Schlagzeile allein – und ich denke, das spiegelt echte Probleme in der Berichterstattung über Wissenschaft dar. Natürlich kann man Verblüffung oder auch Empörung nutzen, um Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, aber wenn die Schlagzeile – das Einzige, was viele Menschen lesen werden – eben nur den Eindruck verschrobener oder sogar sinnloser Wissenschaft hinterlässt, dann hinterlässt das ein falsches Bild und ein relevantes Problem, eine raffinierte Methode und interessante Ergebnisse verkommen zum kurzen Aufreger. Das Wissenschaftsmagazin Science hat das in meinen Augen besser gemacht mit einer etwas erweiterten Schlagzeile für sein Interview mit Alves-Nunes zu seiner Forschung: „Researcher steps on deadly vipers 40,000 times to better predict snakebites“ (Forscher tritt 40.000 mal auf tödliche Vipern, um Schlangenbisse besser vorherzusagen)[4] – hier wird die Fragestellung gleich mit erwähnt und man weiß, dass es hier nicht nur um eine Skurrilität geht. Das Interview lohnt sich übrigens zu lesen, denn es enthält ein paar amüsante Anekdoten und macht damit auch die individuelle menschliche Seite hinter der Forschung sichtbar!
Also: Wissenschaft ist manchmal skurril und sollte offen dafür sein, sich hinterfragen zu lassen – aber hinter vielen Clickbait-Überschriften stecken am Ende eben keine verrückten, weltfremden Forscher, sondern oft Geschichten, die einen genaueren Blick wert sind. Und damit: Mäuschen Out und bis zum nächsten Mal!
Quellen:
[2] Snakebite envenoming (who.int)
[4] Researcher steps on deadly vipers 40,000 times to better predict snakebites | Science | AAAS