Die Berichterstattung der »BILD«-Zeitung über Bezieher von Bürgergeld verzerrt die zugrunde liegende Statistik. In einem Artikel heißt es: „Im Mai bezogen 4,021 Millionen erwerbsfähige Arbeitslose Bürgergeld. Also Menschen, die arbeiten KÖNNTEN, es aber nicht tun.“ Das Problem? Diese Aussage ist nicht korrekt.
Um die Statistik der Bundesarbeitsagentur zu verstehen, bedarf es keines Wirtschaftsprofessors. Es genügt, etwas genauer zu lesen. Die Agentur hat zu allen wichtigen Größen detaillierte Erklärungen veröffentlicht. Die Motivation hinter dem Artikel könnte auf eine bewusste Diffamierung von Arbeitslosen hindeuten – natürlich ist auch Unwissenheit oder mangelnde Recherche eine Möglichkeit. Wir wissen es nicht genau, aber den Kontext zu den Zahlen können wir auf obiaushv.de herstellen.
Was steckt hinter „4,021 Millionen erwerbsfähige Arbeitslose“?
Grundsätzlich erhalten die dort angegebenen Menschen Transferleistungen des Staates, sie sind Bürgergeld-Beziehende. Jedoch ist nicht jede Person automatisch gleich erwerbsfähig. Der Unterschied lässt sich durch diejenigen erklären, die krank und deshalb arbeitsunfähig sind, sowie durch Personen, die studieren, zur Schule gehen oder eine Ausbildung machen. Auch Menschen, die gerade eine Fortbildung über die Bundesagentur für Arbeit oder einen Integrationskurs absolvieren, tragen zu dieser Abweichung bei. Kurz gesagt sind nicht alle Beziehende für den Arbeitsmarkt verfügbar, unter Umständen auch Menschen, die Angehörige pflegen.
Wir haben die Zahlen für 2024 genommen und den Mittelwert ausgerechnet. Demnach erhielten in diesem Jahr rund 4,008 Millionen Menschen durchschnittlich Bürgergeldleistungen. Als arbeitslos, genauer gesagt erwerbslos, galten davon nur 2,772 Millionen.
Sollte es Probleme mit der Darstellung geben: https://obiaushv.de/bild-im-faktencheck-4-millionen-erwerbsfaehige-arbeitslose/?amp=0
In den von der »BILD« verwendeten Zahlen sind übrigens auch die Menschen enthalten, welche aufstockende Leistungen erhalten. Also jene Menschen, die einer Arbeit nachgehen und dennoch auf Bürgergeld angewiesen sind. Das Gesetz spricht zwar von der „Grundsicherung für Arbeitsuchende“, doch leistungsberechtigt ist man bei einer Bedürftigkeit und nicht nur bei einer Arbeitslosigkeit. Schaut man sich die Zahlen für den Mai an, welche auch die »BILD« verwendete, kann man erfahren, dass die Gruppe der 1.541.000 nicht erwerbsfähigen Leistungsberechtigten primär Kinder unter 15 Jahren sind. Die BA spricht hier von 97 Prozent der nicht erwerbsfähigen Leistungsberechtigten.
Nach den Zahlen der Bundesarbeitsagentur (BA) erhielten im Januar 56 Prozent (2.238.000) die Leistungen, ohne jedoch arbeitslos zu sein. Nur 44 Prozent (1.745.000) waren demnach im Januar 2024 wirklich arbeitslos. Für 722.000 Leistungsbeziehende war eine Arbeit nicht zumutbar. 424.000 gingen eine Beschäftigung nach (mind. 15 Wochenstunden). An arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen oder an einem Integrationskurs nahmen 529.000 Personen teil. Arbeitsunfähig waren in der Zeit 258.000 und für 100.000 galten Sonderregelungen für Ältere.
Erwerbslose werden oft verzerrt dargestellt, weil es politisch und gesellschaftlich bequem ist, ein einfaches Narrativ zu schaffen. Komplexe Realitäten werden auf stereotype Bilder reduziert, um bestimmte Botschaften zu vermitteln. Dabei gehen individuelle Geschichten und vielfältige Gründe für Erwerbslosigkeit verloren. Es ist wichtig, differenziert zu betrachten und Empathie zu zeigen, anstatt in Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen. Das verzerrte Bild von Millionen fauler Arbeitsloser wird auch geschickt instrumentalisiert, um politische Ziele zu verfolgen. Die „BILD“-Zeitung könnte korrekt über das Bürgergeld berichten, unterlässt es jedoch. 🤔
Nicht genug Stellen für alle
Neben der reinen Anzahl der Arbeitslosen und den Kosten wird oft vergessen, dass es in Deutschland nicht genug Arbeitsstellen für alle erwerbslosen Menschen gibt. Wir haben dafür ebenfalls die Mittelwerte, also den Durchschnitt der jeweiligen Jahre seit 2014 errechnet. Für das laufende Jahr ergeben sich dadurch nur vorläufige Zahlen. Offene Stellen, die der Bundesagentur für Arbeit (BA) gemeldet wurden, lagen bei 702.935. Auch wenn man bei einer deutlichen Unterfassung ausgehen würde, sollte einem klar werden: Wir haben ein Stellendefizit.
In der letzten Zeit wird zunehmend von einem Mangel an Arbeitskräften gesprochen, was jedoch nicht der Realität entspricht. Einzig ein Fachkräftemangel kann belegt werden. Die BA spricht selbst auch nur von einem Fachkräftemangel in bestimmten Branchen. Laut den Statistiken gibt es demnach 200 Engpassberufe. Wichtig ist zudem, dass der sogenannte Arbeitsmarkt stets in Bewegung ist und die Anzahl an Erwerbslosen zwar konstant erscheinen kann, jedoch eine größere Fluktuation möglich ist.
Als Vergleichsgröße dient hier das Jahr 2023: Hier gab es durchschnittlich 2,6 Millionen Erwerbslose. Dennoch meldeten sich in diesem Jahr 2,2 Millionen Menschen als arbeitslos bei der BA und 1,7 Millionen Erwerbslose nahmen im selben Zeitraum eine Arbeit auf. Übrigens wurde das Beschäftigungswachstum 2023 alleine durch Ausländer getragen, wie die BA mitteilt. Die demografische Entwicklung führt in den nächsten Jahren zu einer noch deutlicheren Dämpfung des inländischen Erwerbspersonenpotenzials.
Laut IAB, dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, gab es im ersten Quartal 2024 bundesweit 1,57 Millionen offene Stellen. Im Osten Deutschlands kamen auf 100 offene Stellen durchschnittlich 230 arbeitslos gemeldete Personen, während es im Westen 170 waren. Dies verdeutlicht eine differenzierte Lage auf dem Arbeitsmarkt zwischen Ost- und Westdeutschland.
Nur 1,23 Millionen der insgesamt 1,57 Millionen offenen Stellen waren laut IAB sofort zu besetzen. Der Rest sind Stellen, die zu einem späteren Zeitpunkt besetzt werden sollen, was die Herausforderungen und den dynamischen Charakter des Arbeitsmarktes unterstreicht.
Die IAB-Zahlen gelten als deutlich realer, weil der Arbeitsagentur nicht alle offenen Stellen gemeldet werden. Dies liegt daran, dass viele Unternehmen ihre offenen Stellen nicht zentral bei der Arbeitsagentur melden müssen. Dadurch kann es zu einer Untererfassung kommen, insbesondere bei kleinen Betrieben oder in spezifischen Branchen. Die Daten des IAB bieten daher ein umfassenderes Bild des Arbeitsmarktes, indem sie zusätzlich zu den offiziell gemeldeten Stellen auch Schätzungen und Analysen basierend auf verschiedenen Quellen einbeziehen.
Massenweise angehäufte Überstunden
Die Anhäufung von Überstunden in der Arbeitswelt ist ein weitverbreitetes Phänomen, das nicht nur die Gesundheit und das Wohlbefinden der Arbeitnehmer beeinträchtigt, sondern auch erhebliche negative Auswirkungen auf die Wirtschaft haben kann. Im Jahr 2023 wurden insgesamt 1.329 Millionen Überstunden registriert, wovon 775 Millionen unbezahlt und 554 Millionen bezahlt waren. Diese Zahlen verdeutlichen das Ausmaß des Problems und werfen ein Licht auf die potenziellen wirtschaftlichen Schäden, die durch massenhaft angehäufte Überstunden entstehen.
Belastung der Arbeitskraft und Produktivität
Eine der offensichtlichsten Auswirkungen von Überstunden ist die physische und psychische Erschöpfung der Belegschaft. Überlastete Mitarbeitende sind häufiger krank und weniger produktiv, was zu einer Reduzierung der Gesamtproduktivität führt. Langfristige Überbeanspruchung kann zu ernsthaften Gesundheitsproblemen führen, die nicht nur die Betroffenen belasten, sondern auch die Unternehmen durch erhöhte Krankenstände und geringere Effizienz beeinträchtigen.
Unbezahlte Überstunden: Ein versteckter Verlust
Problematischer sind die 775 Millionen unbezahlten Überstunden. Auch wenn diese auf den ersten Blick als Kosteneinsparung erscheinen mögen, können sie langfristig zu einer erhöhten Fluktuation und einem Verlust an qualifizierten Arbeitskräften führen. Mitarbeiter, die regelmäßig unbezahlt Überstunden leisten müssen, sind demotiviert und suchen eher nach anderen Arbeitsmöglichkeiten, die bessere Arbeitsbedingungen bieten. Die dadurch entstehenden Kosten für die Rekrutierung und Einarbeitung neuer Mitarbeiter sind beträchtlich und können die vermeintlichen Einsparungen schnell übersteigen.
Wirtschaftliche Ungleichgewichte
Die massenweise Anhäufung von Überstunden kann auch zu wirtschaftlichen Ungleichgewichten führen. Unternehmen, die ihre Mitarbeiter regelmäßig zu Überstunden drängen, könnten kurzfristig Wettbewerbsvorteile erzielen, indem sie Produktionsspitzen abdecken oder dringende Projekte schneller abschließen. Langfristig jedoch führt dies zu einer Ungleichverteilung der Arbeitslast und verschärft soziale Ungleichheiten. Besonders betroffen sind oft Berufsgruppen mit ohnehin geringerem Einkommen, was die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet und sozialen Unfrieden fördern kann.
Bedarf an mehr Arbeitskräften
Die hohe Anzahl an Überstunden ist ein starkes Indiz dafür, dass Unternehmen mehr Arbeitskräfte benötigen. Überstunden entstehen oft, weil die vorhandenen Mitarbeiter das reguläre Arbeitspensum nicht innerhalb der normalen Arbeitszeit bewältigen können. Dies kann auf eine unzureichende Personalplanung oder auf eine unerwartet hohe Arbeitsbelastung hinweisen. Anstatt die bestehende Belegschaft durch Überstunden zu überlasten, wäre es sinnvoller, zusätzliche Mitarbeiter einzustellen. Dies würde nicht nur die Arbeitslast auf mehrere Schultern verteilen, sondern auch die Qualität der Arbeit verbessern und das Risiko von Fehlern und Unfällen verringern.
Ferner könnte die Einstellung von zusätzlichem Personal auch die Arbeitsmoral und Zufriedenheit der bestehenden Mitarbeiter steigern, da diese sich nicht mehr überlastet fühlen würden. Dies würde zu einer besseren Arbeitsatmosphäre und letztlich zu einer höheren Produktivität und Effizienz führen.
Fazit
Die negativen Auswirkungen massenhaft angehäufter Überstunden auf die Wirtschaft sind vielfältig und tiefgreifend. Von der Belastung der Arbeitnehmergesundheit über die finanziellen Kosten für Unternehmen hin zu den sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichten – die Praxis der übermäßigen Überstunden erweist sich als gefährlich. Unternehmen und politische Entscheidungsträger müssen Strategien entwickeln, um dieses Problem anzugehen und nachhaltige Arbeitspraktiken zu fördern, die sowohl das Wohl der Mitarbeiter als auch die wirtschaftliche Stabilität sichern. Eine wesentliche Maßnahme könnte darin bestehen, den tatsächlichen Bedarf an Arbeitskräften zu erkennen und entsprechend mehr Personal einzustellen, um Überstunden zu reduzieren und eine gesunde Work-Life-Balance für alle Mitarbeiter zu gewährleisten.
Quellen:
Eigene Recherchen
»BILD«- Zeitung:
Bürgergeld-Rekord!: Immer öfter Stütze statt Arbeit | Politik | BILD.de
Ampel hat falsch kalkuliert: Bürgergeld bis zu zehn Milliarden Euro teurer | Politik | BILD.de
Bundesagentur für Arbeit: Statistiken der BA, Arbeits-und-Fachkraeftemangel-trotz-Arbeitslosigkeit.pdf (arbeitsagentur.de)
Aktuelle Ergebnisse – IAB – Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
IAB-Arbeitsmarktbarometer – IAB – Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
Hinweis:
Die Bezeichnung „Arbeitslose“ wurde verwendet, da sie nach wie vor offiziell genutzt wird und ein Fachterminus ist. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) erfasst Personen unter diesem Begriff. Obwohl wir diese Bezeichnung als veraltet betrachten, erleichtert sie den Abgleich mit den Daten der BA. Allgemein bevorzugen und empfehlen wir jedoch den Begriff „Erwerbslose“.
„Arbeitslos ist, wer keine Beschäftigung hat (weniger als 15 Wochenstunden), Arbeit sucht, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und bei einer Agentur für Arbeit oder einem Träger der Grundsicherung arbeitslos gemeldet ist. Nach dieser Definition sind nicht alle erwerbsfähigen Hilfebedürftigen als arbeitslos zu zählen.“ Bundesagentur für Arbeit
Zu den Methoden:
Offene Arbeitsstellen gegenüber Arbeitslosenanzahl
Bei unseren Berechnungen wurde der Mittelwert des Jahres durch die Werte der Monate errechnet. Die Werte sind mit dem Stand 01.05.2024 berechnet worden. Neuere Daten lagen nicht vor. Einschränkungen sind entsprechend angegeben.
Artikel wurde am 09.07.24 um die Angaben von IAB ergänzt.