Symbolbild Polizei (Artikel: Kindstötung in Twistringen)

Kindstötungen kommen auch in Deutschland immer wieder vor. Berichte darüber kritisieren diese Taten meistens und suchen nur selten nach Entschuldigungen. Anders sieht es jedoch bei behinderten Kindern aus. Über ein fragwürdiges Medienverhalten des NDRs.

Kindstötung in Twistringen

Grundlage für den Bericht war eine Kindstötung in Twistringen (Landkreis Diepholz), dort soll ein zweijähriges Mädchen durch die eigene Mutter getötet worden sein. Wie die Polizei weiter mitteilte, sei das Kind in der Badewanne ertränkt worden. Die Mutter habe selbst nach der Tat den Notruf gewählt. Der alarmierte Notarzt und die Rettungskräfte konnten nur noch den Tod des kleinen Mädchens feststellen. Die Polizeibeamten nahm die 38-jährige Mutter unter dringendem Tatverdacht fest.

Eine Obduktion des Leichnams ergab Ertrinken als Todesursache. Nach Abschluss der Vernehmung wurde durch den zuständigen Ermittlungsrichter Haftbefehl gegen die Mutter wegen Totschlages erlassen. Die Angehörigen wurden auf Wunsch durch die Seelsorge betreut, ebenso die Rettungskräfte.

Schutzbehauptung oder Motiv?

Die Polizei gab in der Pressemitteilung bekannt, dass die Mutter ihre Tochter ertränkt habe, „um ihr ein Leben mit schwerer Behinderung zu ersparen“. Fraglich bleibt, warum diese Aussage den Weg in die Presseerklärung gefunden hat. Allerdings ist die Nennung eines Motivs nicht unbedingt unüblich. In diesem Fall könnte es sich dabei jedoch auch um eine Schutzbehauptung handeln. Das wirkliche Motiv ist bei solchen Taten nicht immer sehr einfach zu ergründen, dies gilt sicherlich auch für diesen Fall. Es ist allerdings auch nicht hilfreich, wenn die Presse über Beweggründe für eine solche Tat spekuliert.
Wie Thomas Gissing, Pressesprecher der Polizeiinspektion Diepholz, obiaushv.de gegenüber mitteilte, entschloss man sich, das mögliche Motiv „aufgrund diverser Nachfragen“ in „Absprache mit der Staatsanwaltschaft“ zu veröffentlichen.

Spekulation beim NDR

Leider ließ sich der Norddeutsche Rundfunk zur Spekulation verleiten. Im Magazin »Hallo Niedersachsen« wurde versucht, ein solches Motiv zu ergründen. Bevor Matthias Schuch (live aus Oldenburg) zugeschaltet wurde und erklärte, dass die Behörden sich aktuell zurückhalten würden, war Thomas Gissing zusehen. Gissing sprach über die Auffindesituation und dass die Mutter „total aufgelöst“ gewesen sei. Etwas mehr Information als in der Presseerklärung gab es zum Motiv. So sagte er, dass die Mutter Folgendes spontan geäußert habe: „Sie habe das Kind ertränkt, um ihr ein Leben mit schwerster Behinderung zu ersparen“ zudem wisse man bislang nicht mehr zu dieser Thematik.

Obwohl der Pressesprecher die Faktenlage als sehr begrenzt beschrieb, wurde Schuch durch die Moderatorin, nach der Situation der Mutter gefragt. Erst einmal also eine Konzentration auf die Situation der mutmaßlichen Täterin. Wenn die Opfer behinderte Menschen gewesen sind, passiert dies leider öfter. Dem Journalisten Schuch bleibt erst einmal nichts über, als diese eingeschränkte Faktenlage selbst zu erwähnen und wiederholt im Grunde zunächst nur die zuvor gezeigten Aussagen des Pressesprechers der Polizei, doch dann geht die Spekulation los.

Matthias Schuch spekuliert über eine „große Not“ aus welcher die Tat heraus „offenbar“ begangen wurde. Ob eine solche Not bestanden hat, lässt sich nicht genau sagen und es würde auch keine Tat rechtfertigen. Wenn Kleinkinder getötet werden, ist der Aufschrei in den Medien normalerweise sehr groß, ebenso die Empörung. Hier versucht man schon fast Mitleid mit der Mutter zu erzeugen und dies wenige Stunden nach Bekanntgabe der Todesursache, ohne jedoch wirklich Wissen über Tat, Ablauf und wirkliches Motiv zu haben.

Vater und Schwester des Opfers waren während der Tat nicht zu Hause, dies gibt Schuch an. Das angebliche Motiv der Täterin wird danach nochmals erwähnt und es findet keine Einordnung statt. Der ganze Bericht baut nur auf die Tat auf und die Sicht der Mutter. Eigentlich war fast der gesamte Teil mit Schuch unnötig, weil dies bereits zuvor durch den Sprecher der Polizei erzählt wurde. Das Narrativ der Erlösung wird übernommen und dies ohne eine notwendige kritische Beurteilung.

Die große innere Not wurde jedoch mehrfach erwähnt, auch wenn dies genau genommen hochspekulativ ist. Wenigstens wurde noch erwähnt, wo man sich Hilfe suchen kann. Die Grausamkeit der Tat, das Ertränken des Kindes, wurde hingegen kaum thematisiert.

Problematisches Narrativ der Erlösung

Das Erlösungsnarrativ von Tätern und Täterinnen wird dabei gerne nacherzählt, etwa bei den Morden im Oberlinhaus. Damals wurden vier behinderte Bewohner*innen durch eine Pflegerin ermordet und eine weitere Person schwer verletzt. Wie auch in anderen Fällen gibt es die Bestrebung, solche Taten, als Einzelfälle zu bezeichnen oder die Täter und Täterinnen als Erlösende zu framen. Sicherlich nicht immer in böser Absicht, doch dies führt zu Verankerungen in Köpfen und erinnert behinderte Menschen oft an die Bezeichnung „unwertes Leben“ aus dem dritten Reich.a

Neben dem Erlösungsnarrativ kommt oft auch das Narrativ der Überforderung, doch solche Erklärungen greifen viel zu kurz und sind nicht geeignet solche Taten zu erklären. Fraglich, warum manche sich darauf immer wieder einlassen? Motiv der Erlösung wird dabei zu oft thematisiert und als valides Argument verstanden. Erlösung ist dabei ein schrecklicher Euphemismus für Mord. Hier wurde niemand freiwillig von einem Leiden geheilt, kuriert oder erlöst, sondern einfach auf schreckliche Weise getötet.

Was haben diese Ausführungen mit dem jetzigen Fall zu tun?

Einige mögen sich jetzt sicherlich fragen, was diese Ausführungen mit dem jetzigen Fall zu tun haben? Die Frage ist dabei einfach und komplex zugleich. Die Historie in Deutschland ist ein schweres Erbe und Morde an behinderten Menschen waren unter den Nazis normal und Täterinnen und Täter konnten in dem neuen Deutschland einfach weitermachen, zumindest zum Großteil. Einige haben weitere Morde begannen und Strafen waren Jahre, teils Jahrzehnte, kaum der Rede wert. All das hat sich in den Köpfen festgesetzt. Die Gesellschaft exkludiert behinderte Menschen auch heute noch und große Teile dieses Landes sperren sich gegen Inklusion in Schulen und der Sozialdarwinismus ist noch heute weitverbreitet.

Laut Leipziger Autoritarismus Studie 2022 stimmten 5,8 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass es „wertvolles und unwertes Leben“ geben würde.² 16,6 Prozent stimmten zumindest teilweise zu. Nur 64,9 Prozent lehnten diese Aussage völlig ab.² Das zeigt eben, wie sehr solche Vorstellungen verbreitet sind und wie einfach man es solchen Akteuren mit dem Euphemismus der Erlösung macht.

Polizei legte Vorgang als Mordfall an

Sprecher Gissing teilte mit, dass der Vorgang durch die Polizei als „Tatbestand des Mordes“ angelegt wurde. Wieso Staatsanwaltschaft oder Gericht den Tatbestand zu „Verdacht des Totschlags“ geändert haben, ist der Polizei nicht bekannt. Der Notruf soll nach bisherigen Erkenntnissen unmittelbar nach der Tat geschehen sein. Weiter heißt es: „Ob es wohlmöglich eine Schutzbehauptung war, müssen die weiteren Ermittlungen bzw. die Gerichtsverhandlung klären. Es war die erste Aussage der Mutter. Über die familiäre Situation und weitere Erkenntnisse können keine weiteren Angaben gemacht werden.“

Sprache hat Einfluss

Die Sprache hat einen mächtigen Einfluss. Wir Journalistinnen und Journalisten sollten uns dieser Aussage immer bewusst sein. Wir verwenden Sprache täglich, es ist unser Arbeitsmittel und Sprache kann eben benutzt oder gar missbraucht werden. Sprache ist oft der Wegbereiter für alles andere. Die NS-Ideologie wusste dies genau und kreierte nicht ohne Grund einige Wortschöpfungen. Werbung und Manipulation durch Framing und dem profunden Einsatz der Sprache. Worte sind mächtig und Wordbilder auch. Mit Erlösung wird etwas Friedvolles verbunden, darum sprechen wir bei Tieren auch lieber über Erlösung oder Einschläfern, nicht aber von Mord oder Tötung.

Seit über 40 Jahren beschäftigt sich die Psychologie und insbesondere die Kommunikationswissenschaften mit Framing. In Studien konnte gezeigt werden, wie dies etwa Eigenschaften verändern kann, welche wir mit Personengruppen verbinden.³

Ertrinken kann wohl nur selten als ein friedvolles Ereignis bezeichnet werden. Wie grausam es in diesem Fall war, kann nur durch das Gericht und die Gutachten festgestellt werden. Ob es nun Mord oder Totschlag war, wir sollten es bei diesen korrekten Sprachbildern belassen und eine Tat nicht im Nachhinein in einen besonders humanen Akt umdeuten.

Quellen: Eigene Recherchen, sowie Anfrage bei der Polizei.
NDR Bericht des Magazins »Hallo Niedersachsen«

³ Robert M. Entman – Framing: Toward Clarification of a Fractured Paradigm
³ Cognitive, Attitudinal, and Emotional Effects of News Frame and Group Cues, on Processing News
About Immigration

² Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten

Presseerklärungen der Polizei:
POL-DH: Twistringen – Kind getötet vom 17.05.2023 – 19:40
POL-DH: Twistringen – Haftbefehl wegen Kindstötung vom 19.05.2023 – 09:16

Interessantes und Ergänzungen:

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Von Steven Oberstein

Steven Oberstein oder auch besser bekannt unter dem Pseudonym OBIausHV ist freier Journalist und beschäftigt sich in letzter Zeit vor allem mit der Corona-Pandemie, ansonsten schreibt er über folgende Themen: Medienkritik, Gesundheit/Medizin (Coronavirus, Anthroposophie, Homöopathie), Politik und Technik.

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