Die Tafeln in Deutschland stehen vor einer beispiellosen Herausforderung. Rund 1,6 Millionen Menschen werden nach Angaben des Tafel-Dachverbandes von ihnen mit Lebensmitteln versorgt. Steigende Lebenshaltungskosten, Inflation und die Folgen globaler Krisen wie dem Ukraine-Krieg lassen die Nachfrage explodieren. Bereits rund 60 Prozent der Tafeln sehen sich gezwungen, Lebensmittelrationen zu kürzen, und ein Drittel der Einrichtungen hat temporäre Aufnahmestopps oder Wartelisten eingeführt. Kritiker warnen, dass die Abhängigkeit von ehrenamtlicher Hilfe strukturelle Probleme verdeckt – und letztlich verschärft.
Rationierungen und Aufnahmestopps
Die Bedürftigen stehen weiterhin vor einer schwierigen Zeit. Bereits seit einiger Zeit sehen sich viele der lokalen Tafeln nicht in der Lage, allen bedürftigen Menschen Lebensmittel anbieten zu können. 2023 sprach der Verband der Tafeln von einer durchschnittlichen Zunahme der Kundinnen und Kunden, so nennt man die Bedürftigen dort, von 50 Prozent. Besonders groß ist der Andrang demnach noch immer in den Großstädten. Rund 1.000 Tafeln gab es 2023 1, derzeit sind es etwa 960 in der Bundesrepublik.
Wie der Vorsitzende des Tafel-Dachverbandes, Andreas Steppuhn, der Neuen Osnabrücker Zeitung mitteilte, müssen etwa 60 Prozent der Tafeln bereits die Lebensmittelabgaben reduzieren. Ein Drittel der Einrichtungen greife zu temporären Aufnahmestopps oder Wartelisten, um die steigende Zahl Bedürftiger zu bewältigen. „Mit solchen Lösungen versuchen sich Tafeln über Wasser zu halten und gleichzeitig so vielen Menschen wie möglich zu helfen“, erklärte Steppuhn.
Die Hauptursache für den Anstieg der Bedürftigen liegt laut Steppuhn in den gestiegenen Lebenshaltungskosten, die insbesondere durch höhere Energiepreise und Inflation angetrieben werden. Gleichzeitig seien Löhne und Renten nicht im gleichen Maß gestiegen. Ein zusätzlicher Faktor sei die durch den Krieg in der Ukraine ausgelöste Flüchtlingsbewegung. Seit Beginn des Konflikts hätten die Tafeln bundesweit 50 Prozent mehr Kundinnen und Kunden registriert.
Forderung nach entschlossener Armutsbekämpfung
Angesichts der aktuellen Krise fordert der Tafel-Dachverband eine entschlossene Bekämpfung der Armut in Deutschland. Steppuhn betonte, dass die ehrenamtlichen Tafeln nicht dauerhaft die Lücken füllen könnten, die staatliche Maßnahmen seit Jahrzehnten hinterlassen hätten. Er sprach sich für eine ausfinanzierte Kindergrundsicherung, krisenfeste Löhne, armutsfeste Renten und bezahlbaren Wohnraum aus.
Die Forderungen des Vorsitzenden teilen sicherlich auch viele Kritiker des Tafelsystems, welche argumentieren, dass die Tafeln die Armut eher verdecke und vor allem staatlichen Akteuren sowie der Politik nütze. Anstelle struktureller Lösungen verweisen viele Behörden, wie Jobcenter und Sozialämter, oft auf die Tafeln, statt sich bei den politischen Entscheidungsträgern für angemessene und notwendige Transferleistungen einzusetzen. Diese Praxis führe dazu, dass bestehende Defizite im sozialen Sicherungssystem kaschiert und letztlich zementiert würden, anstatt sie zu beseitigen.
Ebenso werfen Kritiker die Frage auf, ob das Tafelmodell nicht selbst Teil des Problems sei. Die Existenz der Tafeln, so das Argument, habe über Jahre hinweg dazu beigetragen, den gesellschaftlichen und politischen Druck auf echte Armutsbekämpfung zu mindern. Solange Bedürftige auf Lebensmittelspenden zurückgreifen könnten, fehle der Anreiz, grundlegende Reformen voranzutreiben, wie eine umfassende Anpassung der Regelsätze im Bürgergeld oder eine stärkere Besteuerung von Vermögen, um soziale Ungleichheit zu verringern.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte kürzlich eine mögliche Senkung des Mehrwertsteuersatzes auf Lebensmittel ins Gespräch gebracht. Steppuhn begrüßte dies als denkbaren Schritt, betonte jedoch, dass eine solche Maßnahme alleine nicht ausreiche. „Es gibt viele Schrauben, an denen gedreht werden muss“, so Steppuhn.
Problematisch sind für die Bedürftigen die besonders stark gestiegenen Lebensmittelkosten. Steigerungen von bis zu 35 Prozent wirken sich hier dramatisch aus. Insbesondere die Kosten für die günstigen Eigenmarken der Discounter sind in den vergangenen Jahren besonders stark angestiegen. Zwei nordamerikanische Wirtschaftswissenschaftler haben die Preisentwicklung beobachtet und konnten den Anstieg besonders bei sonst günstigen Produkte und Eigenmarken ausmachen.2
In Deutschland stieg der Preis von teuren Lebensmitteln zwischen Januar 2020 bis Mai 2024 um 15 Prozent an. Bei den Eigenmarken lag der Wert jedoch bei 29 Prozent. Grundsätzlich sind die Eigenmarken immer noch günstiger als die Marken bekannter Hersteller, jedoch wirkt sich dies für Armutsbetroffene deutlich stärker aus. Da Lebensmittel regelmäßig gekauft werden, fallen Preissteigerungen in diesem Bereich besonders stark auf, wie kürzlich der hohe Preis für Butter. Vergleicht man die Preise von 2020 und 2023, zeigt sich ein Anstieg von 30,3 Prozent.
Verschärfte Maßnahmen für Bürgergeld-Empfänger: Neue Initiative der Bundesregierung | obiaushv.de
Kurz & Bündig
Wie viele Menschen sind aktuell auf die Tafeln angewiesen?
Rund 1,6 Millionen Menschen nutzen regelmäßig die Angebote der Tafeln in Deutschland.
Warum müssen Tafeln Lebensmittel rationieren?
Die steigende Nachfrage und die begrenzten Ressourcen zwingen Tafeln dazu, die Abgabe von Lebensmitteln zu rationieren, um möglichst vielen Menschen zu helfen.
Was fordern die Tafeln von der Politik?
Die Tafeln fordern unter anderem eine Kindergrundsicherung, krisenfeste Löhne, armutsfeste Renten und bezahlbaren Wohnraum.
Sind Eigenmarken noch günstig?
Eigenmarken bleiben günstiger als Markenprodukte, sind jedoch seit 2020 um 29 Prozent teurer geworden, was Bedürftige besonders trifft.
Warum gibt es Kritik am Tafelsystem?
Kritiker bemängeln, dass das System die Armut versteckt und die Verantwortung für strukturelle Lösungen von der Politik auf ehrenamtliche Organisationen abwälzt.
Quellen:
Eigene Recherche
(€ / kostenlos)Wachsende Armut: Tafeln müssen Lebensmittel-Ausgabe rationieren | NOZ
(ENG) Price discounts and cheapflation during the post-pandemic inflation surge – ScienceDirect
FOTO: REINER PFISTERER | TAFEL DEUTSCHLAND E.V.
- Aufnahmestopps und Wartelisten – Tafeln beklagen Überlastung | tagesschau.de[↩]
- Price discounts and cheapflation during the post-pandemic inflation surge – ScienceDirect[↩]